EP45: Warum die Gesundheit bereits vor der Empfängnis beginnt
- Maxi Pesch

- 10. März
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 11. März
Dass die ersten 1000 Tage – von der Empfängnis bis zum zweiten Lebensjahr eines Kindes – für seine Entwicklung entscheidend sind, ist mittlerweile bekannt. Doch immer mehr Forschungsergebnisse zeigen, dass diese Geschichte noch viel früher beginnt. Die Epigenetik, ein wachsendes Forschungsgebiet, beweist, dass die Umwelt und der Lebensstil der Eltern noch vor der Empfängnis die langfristige Gesundheit ihres Kindes beeinflussen können.
In dieser Episode von 1000Deeg gibt Dr. Agnès Collet, eine auf Humangenetik und funktionelle Medizin spezialisierte medizinische Biologin, spannende Einblicke in diese Forschungsergebnisse und ihre Bedeutung für die frühkindliche Entwicklung.
"Die Umwelt steuert die Genexpression"
„Ein Kind erbt natürlich sein genetisches Material – 50 % von der Mutter und 50 % vom Vater. Aber wir wissen heute, dass dies kein unveränderliches Programm ist“, erklärt Dr. Collet. „Die Umwelt, der Lebensstil und die Ernährung beeinflussen, wie diese Gene ausgedrückt werden. Die Epigenetik hilft uns zu verstehen, wie bestimmte genetische Veranlagungen entweder aktiviert oder abgeschwächt werden können – abhängig von den Lebensumständen der Eltern.“
Diese Beeinflussung beginnt lange vor der Geburt. „Es gibt epigenetische Marker, die steuern, wie unsere Gene ausgedrückt werden. Und diese Marker werden nicht nur durch die Umgebung des Babys beeinflusst, sondern bereits durch die Lebensweise der Eltern vor der Empfängnis“, betont sie.
Forschungsergebnisse zeigen, dass elterlicher Stress, Ernährung oder auch der Kontakt mit Umweltgiften diese epigenetischen Marker verändern und somit die Entwicklung des ungeborenen Kindes beeinflussen können. „Es gibt eine biologische Kontinuität zwischen den Generationen, die über das reine genetische Erbe hinausgeht“, erklärt Dr. Collet.

Das "vorgeburtliche Fenster" – ein entscheidender Zeitraum
Traditionell werden die ersten 1000 Tage als Schwangerschaft plus die ersten zwei Lebensjahre definiert. Doch laut Dr. Collet sollte dieser Zeitraum erweitert werden: Die 100 Tage vor der Empfängnis sind ebenso entscheidend.
„Die Keimzellen – also Spermien und Eizellen – reifen etwa drei Monate vor der Empfängnis heran“, erklärt sie. „Und ihre Qualität wird direkt von der Umgebung und dem Lebensstil der Eltern beeinflusst.“
Das bedeutet, dass der Gesundheitszustand und die Lebensweise der Eltern schon vor der Schwangerschaft einen wesentlichen Einfluss auf das zukünftige Kind haben. „Deshalb betonen wir heute die Bedeutung der präkonzeptionellen Phase, also der Zeit vor der eigentlichen Schwangerschaft“, sagt Dr. Collet.
Welche Faktoren spielen eine Rolle? Ernährung, Schlafqualität, Stressniveau und der Kontakt mit Umweltgiften gehören zu den wichtigsten Einflussgrößen.
"Die Ernährung der Mutter beeinflusst die Genexpression des Babys"
Einer der am intensivsten untersuchten Faktoren ist die Ernährung der Eltern, insbesondere der Mutter. „Studien haben gezeigt, dass eine fettreiche Ernährung mit vielen hochverarbeiteten Lebensmitteln während der Schwangerschaft die Expression von Genen beeinflussen kann, die für den Stoffwechsel des Babys verantwortlich sind“, erklärt Dr. Collet.
„Was die Mutter isst, kann langfristig die Fett- und Zuckerregulation des Kindes beeinflussen und so das Risiko für spätere Stoffwechselkrankheiten erhöhen.“
Doch es geht nicht nur um die Mutter. "Auch der Lebensstil des Vaters spielt eine Rolle", betont sie. „Stress, Alkoholkonsum und Schlafmangel können die Qualität der Spermien beeinflussen und
somit ebenfalls die Gesundheit des ungeborenen Kindes.“
Bindung und Entwicklung: ein biologischer Einfluss?
Neben Genetik und Ernährung spielt auch die emotionale Bindung zwischen Eltern und Kind eine zentrale Rolle für die Entwicklung. „Heute wissen wir, dass die Qualität der frühen Bindung die Stressregulation und sogar die Genexpression beeinflussen kann“, erklärt Dr. Collet.
Studien zeigen, dass Kinder, die unsichere Bindungserfahrungen oder frühkindliche Trennungen erlebt haben, langfristig eine veränderte Stressverarbeitung aufweisen. „Sowohl bei Tieren als auch beim Menschen sieht man, dass die Fürsorge und emotionale Sicherheit der ersten Jahre eine messbare biologische Wirkung haben. Bestimmte epigenetische Marker werden durch die Qualität der frühen Beziehung geprägt.“
Als Beispiel nennt sie eine Studie aus England, die sich mit Kindern befasste, die Vernachlässigung oder Missbrauch erfahren hatten. „Die Forscher fanden heraus, dass eine stabile Bindung zu einer Bezugsperson bestimmte epigenetische Signaturen wieder verändern konnte. Das zeigt, dass nichts unumkehrbar ist und dass Liebe, Nähe und emotionale Sicherheit einen biologisch nachweisbaren, heilenden Effekt haben können.“
Doch diese Erkenntnisse werfen auch gesellschaftliche Fragen auf: Geben wir Eltern genügend Zeit und Raum, um diese Bindung aufzubauen? „Ich denke, hier gibt es viel Aufholbedarf“, so Dr. Collet. „Bindungszeit endet nicht mit dem Elternurlaub. Heute müssen viele Eltern sehr früh wieder arbeiten und haben kaum Unterstützung. Zeit ist ein entscheidender Gesundheitsfaktor – und das sollte ernster genommen werden.“
Fehlende Prävention: Warum handeln wir nicht früher?
Trotz dieser wissenschaftlichen Erkenntnisse bleibt die Gesundheitsvorsorge weitgehend auf Schwangerschaft und frühe Kindheit beschränkt. „Wir begleiten werdende Mütter sehr gut, aber über die Zeit vor der Empfängnis wird immer noch viel zu wenig gesprochen“, kritisiert Dr. Collet.
Sie sieht hier einen Widerspruch: Obwohl das Wissen wächst, hinkt die öffentliche Gesundheitspolitik hinterher. „Warum werden zukünftige Eltern nicht früher informiert? Warum warten wir mit Empfehlungen zu Ernährung, Schadstoffvermeidung oder Stressbewältigung, bis die Schwangerschaft bereits besteht?“
Einige Länder beginnen inzwischen mit Präkonzeptionellen Beratungsgesprächen, doch dies ist noch nicht weit verbreitet. „Es gibt enormes Potenzial, um chronische Erkrankungen durch frühzeitige Maßnahmen zu reduzieren“, betont sie.
Ein neuer Blick auf die frühe Gesundheit?
Wenn man die ersten 1000 Tage um eine präkonzeptionelle Phase erweitert, könnte die Präventivmedizin dazu beitragen, das Risiko für chronische Erkrankungen zu senken und eine gesündere Zukunft für kommende Generationen zu schaffen.
„Wir beginnen gerade erst zu verstehen, wie wichtig Prävention in der modernen Medizin ist, aber wir müssen noch weiter gehen“, resümiert Dr. Collet. „Die Fortschritte in der Genetik und funktionellen Medizin geben uns neue Werkzeuge an die Hand, um Eltern frühzeitig zu begleiten.“
Diese Erkenntnisse könnten dazu führen, dass wir die Gesundheit von Kindern nicht erst mit der Geburt, sondern schon lange vorher als eine Form der präventiven Medizin betrachten.



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